Welche Rolle spielt Dzogchen für die heutige Gesellschaft?

Das augenscheinlichste Prinzip der heutigen modernen Gesellschaft, in der wir Menschen leben, ist der Fortschritt. Dieser Fortschritt ist das Ergebnis der Entwicklung der menschlichen Kenntnisse, Grundlage jeglicher Optimierung in der Landwirtschaft, wie auch in der Industrie, um die Lebensumstände der Völker zu verbessern.

Wir sind alle Teil der Gesellschaft und es ist natürlich, dass wir dieses Prinzip teilen. Da es scheint, dass wir uns dies als unser konkretes Ziel gesetzt haben, tragen wir Tag für Tag zu einem raschen Fortschritt, einer Veränderung der Gesellschaft bei. Das gesellschaftliche Interesse liegt genau darin, durch den Fortschritt alle materiellen Schwierigkeiten zu überwinden und unseren Lebensstandard zu verbessern. Wenn der Fortschritt Nutzen und Wohlstand für die Gesellschaft bedeutet, sollte der Mensch als Urheber des Fortschritts die Kontrolle über die Gesellschaft aufrecht erhalten und den Wohlstand genießen. Und es ist unnötig zu sagen, dass, wenn der Einzelne als Mittelpunkt der Gesellschaft in die entgegengesetzte Richtung ginge und zum Sklaven der Gesellschaft würde, der Fortschritt niemals sein wahres Ziel erreichen könnte.

Doch wir sind an die dualistische Vision gewöhnt und durch sie konditioniert. Daher müssen wir uns darüber bewusst sein, dass auf die gleiche Weise, in der die Existenz eines Einzelnen endet, wenn seine Lebenskraft verbraucht ist, diese Art des Fortschritts mit dieser Gesellschaftsform zu Ende gehen könnte.

Die Höhe eines Gebäudes muss zum Beispiel der Tragfähigkeit der Fundamente entsprechen, und kann nicht willkürlich festgelegt werden. Wenn, um ein anderes Beispiel zu nehmen, der Mensch eine Maschine baut und deren Leistungsmöglichkeiten festlegt, muss er sie immer auf Grundlage jener Möglichkeiten in Betrieb nehmen, denn eine Maschine kann ihre Funktion nicht den Bedürfnissen des Menschen anpassen. Aber wenn der Mensch zum Sklaven der Maschinen wird, gibt es keine Garantie dafür, dass er die Kontrolle über sie wiedererlangen kann, nur weil er sie geschaffen hat. Ebenso ist klar: Definiert man die Fähigkeit des menschlichen Geistes auf der Grundlage von Äußerem, dann werden unvermeidlich auch die Wirkungsmöglichkeiten der Energie des Individuums durch das Objekt, durch das Äußere begrenzt sein.

Sobald eine Gesellschaft einen gewissen materiellen Fortschritt erreicht und sich das intellektuelle Niveau entwickelt hat, die materiellen Probleme fast alle gelöst worden sind, und die aktuellen Veränderungen dafür klare Beweis liefern, ist es unumgänglich, dass sich die Konflikte zwischen Subjekt, dem Individuum, und Objekt viel offener manifestieren. Wenn nämlich eine Gesellschaft auf dem Objekt begründet ist, so fortschrittlich und raffiniert sie auch sein mag, ist es natürlich, dass sich das Individuum früher oder später die Frage nach dem Sinn von all diesem Fortschritt stellt und nach einer für sich selbst authentischen Antwort sucht. Doch solange diese Antwort nicht aus seinem Inneren kommt, findet er kein Motiv, das ihn zufriedenstellt: Das beweisen ihm ganz klar die Widersprüche der materialistischen Gesellschaft.

Was das Subjekt, das Individuum, betrifft, so gibt es nichts Höheres oder Tiefgründigeres als das, was wir gemeinhin „Ich“ und „Wir“ nennen. Und zum Wohl und im Interesse dieses „Ich“, der Grundlage aller unserer Vorstellungen, sprechen wir von Freiheit. Die Freiheit, von Buddha vor mittlerweile zweitausendfünfhundert Jahren als wahres Glück definiert – im Gegensatz zur Konditionierung als der Ursache allen Leidens – ist der Dreh- und Angelpunkt aller Auffassungen, denn die Freiheit ist im Interesse aller. Aus diesem Grunde sind wir seit langem daran gewöhnt, von der Freiheit Reden zu hören. Und sie ist auch zum Hauptargument der politischen Parteien geworden. Doch auch wenn alle von ihr sprechen, so wird der Freiheit und ihren Auswirkungen, ihren verschiedenen Aspekten und ihren Anwendungsmöglichkeiten sehr unterschiedliche Bedeutung beigemessen. Als Folge erweist es sich oftmals, dass das, was einige für Freiheit gehalten haben, das Gegenteil davon ist.

Wenn man die Idee von Freiheit verfolgt, liegen dem im Allgemeinen positive Absichten zugrunde, wie sehr diese Vorstellung auch durch den Glauben und die individuellen geistigen Fähigkeiten eingeschränkt sein mögen. Dieses Wort wird wohl kaum in der offenkundigen Absicht verwendet, den eigenen Interessen und denen anderer zu schaden, und Leiden zu verursachen. Was immer wir mit unserem dualistischen Verstand entscheiden, kann dennoch dessen Grenzen nicht überschreiten und es geschieht daher häufig, dass die Idee der „Freiheit“ nur eine theoretische Vorstellung bleibt, ohne irgendeine konkrete Auswirkung.

Solange wir uns nicht aus dem Netz der dualistischen Vision befreien, bleibt die Freiheit immer etwas Falsches. Um die Grenzen des Dualismus zu überwinden muss man den wahren Zustand erkennen und dies ist das Ziel der Dzogchen-Praxis. Nur auf diese Weise kann der Fortschritt der Gesellschaft wahrhaftig in Harmonie mit dem Individuum entstehen und das tatsächliche Interesse aller repräsentieren.

Einige könnten einwenden, dass eine solche, von der Praxis herrührende Freiheit nur zum Wohl einer begrenzten Anzahl von Menschen sein kann, und die Probleme der Gesellschaft nicht lösen kann. Die dringlichste Notwendigkeit sei aber, die materiellen Schwierigkeiten zu beseitigen mit denen wir in unserer Gesellschaft konkret konfrontiert sind.

Das ist wahr, wir müssen alle versuchen so gut wie möglich zusammenzuarbeiten, um die materiellen Probleme der Gesellschaft zu lösen. Wir müssen nämlich, solange wir leben, innerhalb der Gesellschaft leben, weil wir ein Teil davon sind. Folglich genießen wir ihre Vorteile und sind ihren Schwierigkeiten unterworfen. Aber es geht nicht, dass ein Praktizierender des Dzogchen aus der Gesellschaft aussteigt, sich von ihr isoliert und in Frieden für sich alleine lebt. Er hätte heutzutage noch nicht einmal die Möglichkeiten dafür. Wenn wir am Fortschritt der Gesellschaft mitarbeiten müssen, ist es aber notwendig, sich immer vor Augen zu halten, dass nur wir als Individuen die Vorteile der Gesellschaft genießen und auch wir als Individuen die einzigen Träger der Gesellschaft sind.

Die Gesellschaft ist die Summe vieler Individuen, aber die Summe fängt logischerweise beim Einzelnen an. Um eine freie Gesellschaft zu haben, muss daher jedes Individuum in sich wahrhaft frei sein und innerhalb der Gesellschaft in Freiheit handeln können. Wenn man sich wie Schafe treiben lässt, die einem Schäfer auf die Weide folgen, wird man dieses Ziel nicht erreichen. Dieser Zustand der authentischen inneren geistigen Freiheit eines jeden Individuums ist die wirkliche Bedeutung von „Dzogchen“ und nun verstehen wir, dass Dzogchen dem letztendlichen Ziel der Gesellschaft entspricht.

Da wir alle sehr an Religionen und Sektierertum gewöhnt sind, denken wir, bei dem Begriff Dzogchen sofort, dass es sich um etwas handelt, dass außerhalb der Gesellschaft oder fremd von ihr ist. Aber dieser Name ist in Wirklichkeit lediglich eine von unserem Verstand festgelegte Definition. Es existiert außerhalb von uns nichts, das „Dzogchen“ heißt oder mit diesem Namen definiert werden könnte. Ein Name ist nur für die zwischenmenschliche Kommunikation notwendig und aus diesem Grunde haben die Wissenshalter in alter Zeit dem tiefgründigen Zustand des Seins den Namen „Große Vollkommenheit“, Dzogchen, gegeben.

Dzogchen bedeutet, dass ein Individuum ein ganzheitliches Wissen von Urgrund, Weg und Frucht des Zustandes der spontan vorhandenen Vollkommenheit besitzt und konkret die Essenz der Methoden anwendet, um diesen Zustand zu verwirklichen. Es macht in diesem Fall keinen Unterschied, wenn man dem einen anderen Namen gibt. Die, die diesen Zustand erkannt haben, werden „Dzogchenpa“ genannt, „Praktizierende des Dzogchen“: Wo immer sie auch leben mögen, sind die Dzogchen-Belehrungen lebendig. Manche meinen, dass die Lehren des Dzogchen aus den Schriften der Tantras, Agamas und Geheimen Unterweisungen bestehen, doch scheint mir das nicht präzise. Die Tantras und die anderen Serien der Unterweisungen nämlich haben sicherlich das Ziel, den Sinn von Urgrund, Weg und Frucht des Zustandes des Dzogchen zu erklären und auf der Grundlage dieser Erklärungen müssen wir das Wissen entwickeln. Aber im Zentrum von allem ist das Bewusstsein und dieses realisiert den Zustand. Wenn im Individuum das Wissen nicht erwächst, bringen die Dzogchen Schriften, wie viele auch existieren mögen, keinen Nutzen.

Die Lehre des Dzogchen lebt daher im Bewusstsein des Individuums und da viele Individuen zusammen die sogenannte Gesellschaft bilden, kann Dzogchen nicht etwas sein, was die Gesellschaft nicht betrifft. Wir sind Teil der Gesellschaft, wir leben in ihr, müssen zu ihrem Fortschritt beitragen. Dies reicht als Beweis, dass Dzogchen eine wirkliche Beziehung zur Gesellschaft hat. Diese Beziehung besteht auf natürliche Weise und muss nicht künstlich konstruiert werden.

Wenn wir die wahre Beziehung zwischen Gesellschaft und individuellem Bewusstsein wirklich verstehen, und auf der Grundlage dieses Prinzips versuchen zusammenzuarbeiten, um die Gesellschaft zu verbessern, wird der Fortschritt endlich allen, ohne Unterschied, konkreten Nutzen bringen können. Und es kann ein Zeitalter entstehen, in dem wir alle, befreit von den Fesseln der Dualität, der Ursache aller zwischenmenschlichen Probleme und Konflikte, ein authentisches Wohlbefinden und Glück genießen.

Chögyal Namkhai Norbu, Spiegel des Bewusstseins, Diederichs Verlag