Was ist Dzogchen

Dzogchen bedeutet das Verstehen des ursprünglichen Zustandes des Individuums, der unkonditionierten Natur des Geistes durch eigene direkte Erfahrung. Die Natur des Geistes liegt jenseits der spezifischen Inhalte des Geistes, der Gedanken und Gefühle, die im Geist auftauchen und die eigene psychologische, kulturelle und soziale Konditionierung widerspiegeln. In gleicher Weise können wir zwischen einem Spiegel, der die natürliche, ihm eigene Fähigkeit zur Reflexion hat und den Reflexionen, die in ihm zu sehen sind, unterscheiden. Der Spiegel darf mit den Reflexionen, die in ihm erscheinen, nicht verwechselt werden.

Die komplexe, miteinander verbundene Struktur der Lehre ist in sich selbst brillant und schön wie ein facettenreicher Kristall, von dem jede Facette makellos reflektiert und sich auf alle anderen bezieht. Aber der einzige Weg, um in das Herz des Kristalls zu sehen, ist, in sich selbst zu schauen. Was ist Dzogchen?

Um es genau zu sagen: Dzogchen ist unser Zustand. Wenn wir für ein Retreat zusammenkommen, geht es mir vor allen Dingen darum, euch das Verständnis unserer eigenen Situation nahezubringen. Auch wenn ich das auf unterschiedliche Weise mache, ist das, was wir Dzogchen, die Große Vollkommenheit, nennen, immer unser Zustand. Wenn ihr das begreift, kann das realer Ausgangspunkt für eine Entwicklung sein; wenn wir es nicht verstehen, wird das Marigpa, Nicht-Erkennen, Unwissenheit, genannt.

Im Dzogchen ist Unwissenheit nicht das, was wir normalerweise darunter verstehen. Im allgemeinen ist eine dürftige Bildung Voraussetzung für Unwissenheit. Nach der Dzogchen-Lehre kann eine gebildete Person in diesem Sinn sehr wohl unwissend sein, während ein ungebildeter Mensch nicht zwangsläufig unwissend zu sein braucht. Wir leugnen weder den Wert von Bildung noch unterstellen wir, dass Bildung unwissend macht. Wenn wir wissen, wie wir Bildung verwenden können, kann sie sehr nützlich sein. Doch normalerweise ist Bildung ein Hindernis für das Verständnis von Dzogchen.

Nehmt zum Beispiel jemanden, der sich ziemlich eingleisig auf östliche Philosophie spezialisiert hat. Warum hat er sich so darauf festgelegt? Weil westliche Philosophie nicht ganz zu seiner Situation passt und sie ihn nicht befriedigt. Die Folge davon ist, dass er sich in etwas anderes vertieft, obwohl es zusätzlich Studium und Auseinandersetzung mit sich bringt. Er sagt dann vielleicht, dass er mit Buddha oder Nagarjuna übereinstimmt und die Dinge da mehr Sinn für ihn ergeben als in der westlichen Philosophie. Doch das ist nichts anderes als eine intellektuelle Entscheidung, an eine bestimmte Betrachtungsweise zu glauben. Solche Leute stürzen sich in buddhistisches, hinduistisches oder konfuzianisches Gedankengut und sind überzeugt von dem, was sie durch östliche Philosophie erlernen. Tag für Tag vertiefen und entwickeln sie diese Überzeugung und fühlen den »Reichtum des Wissens«, doch in Wirklichkeit haben sie sich durch ihre Ideologie konditioniert. Wenn jemand von allem überzeugt ist, was Nagarjuna in der buddhistischen Philosophie sagte, dann ist er ein vollkommener Sklave von seiner Ideologie geworden, das heißt, er lehnt andere buddhistische Schulen oder hinduistische Philosophien ab. Das mag fabelhaft erscheinen, dennoch ist es verkehrt, denn jeder durch Studium und Ideologie gewonnene Standpunkt kann wieder in sich zusammenfallen.

Im Dzogchen solltet ihr nicht irgend etwas Falsches oder Künstliches konstruieren. Ihr müsst euren wirklichen Zustand und das, was ihr macht, verstehen. Wenn wir von Tawa, der Sicht oder Sichtweise, sprechen, meinen wir damit, dass wir das entdecken, was wirklich ist. Ganz allgemein bezieht sich Tawa darauf, wie verschiedene Schulen die Philosophie ihrer eigenen Schule erklären. Beispielsweise gilt im Mahayana die Sichtweise von Nagarjuna als vollkommen. Jemand, der sie übernommen hat, wird die Tendenz haben, alle Sichtweisen zu kritisieren, die mit der von Nagarjuna nicht übereinstimmen. Wenn jemand stärker zur Nyingma-Tradition neigt, wird er bestrebt sein, sich die Belehrungen von Longchenpa zu eigen zu machen. Wenn dann Andere Kritik an den Nyingmapa üben, wird er die Schriften von Longchenpa verwenden, um seine Tradition zu verteidigen. Dies ist normalerweise mit Tawa, der Sichtweise, gemeint.

Die Sichtweise von Dzogchen ist es jedoch nicht, nach außen zu schauen und zu urteilen. Im Dzogchen sollte man sich im Zustand des Wissens befinden. Deshalb verwenden wir Brille und Spiegel als Beispiele. Durch eine Brille kann man nach außen, auf äußere Objekte schauen – ein Beispiel für den dualistischen Blickwinkel. Für das Prinzip des Dzogchen steht der Spiegel: Wir schauen hinein, um uns selbst zu entdecken.

Wenn ihr euch entscheidet, einem Meister oder einer Meisterin zu folgen, müsst ihr nicht blind alles glauben, was er oder sie sagt. Ein Meister ist kein Befehlshaber, an dessen Lippen ihr hängt und nach jedem seiner Worte: “Jawohl!” sagt. Ihr solltet aber auch nicht einen Meister aufsuchen, nur um mit ihm zu argumentieren. Es ist ein Fehler, mit einem Meister argumentieren zu wollen, denn das ist nichts anderes, als weiter mit dem Verstand zu arbeiten. Wir benutzen den Intellekt seit endlos langer Zeit und haben damit nichts erreicht. Wir können den Prozess des Leidenskreislaufs von Samsara durch weiteres Argumentieren nicht anhalten. Der entscheidende Punkt ist, ihr müsst euch bemühen zu verstehen, was der Meister zu erklären versucht. Er gibt euch keine weiteren intellektuellen Konstruktionen. Er versucht lediglich, euch Methoden an die Hand zu geben, damit ihr euch selbst entdeckt. Es liegt dann an euch, das zu verstehen und die Methoden anzuwenden. Natürlich kann ein Meister die unterschiedlichsten Ratschläge, Methoden und Praktiken geben, um Erkenntnis zu erlangen. Doch auf keinen Fall kann er ein Wunder bewirken, das euch verändert, und er kann auch keine plötzliche Erleuchtung herbeizaubern.

Viele Leute haben das Gefühl, dass sie nicht das Geringste erreicht haben, obwohl sie über Jahre hinweg vielen verschiedenen Lehrern gefolgt sind. Kaum hören sie von einem anderen Meister, laufen sie hin und hoffen, dass sie nun endlich erleuchtet werden. Doch kein Meister ist dazu in der Lage. Die Stärke eines Meisters liegt in der Fähigkeit, die Lehre zu erläutern. Wenn jemand Methoden erhalten hat, sie anwendet und in den Zustand des Wissens gelangt, dann hat der Meister tatsächlich ein Wunder vollbracht.

Ungeachtet der Namen, die wir Dzogchen geben, gibt es immer die Übertragung durch den Meister, die im einzelnen Menschen diesen Zustand des Wissens öffnet. Das heißt nun nicht, dass sich etwas Großartiges ereignet und alles wunderbar wird; vielmehr ist es ein Zustand des Wissens, der wahr gemacht, oder, anders ausgedrückt, realisiert werden soll. Zu diesem Zweck gibt es viele verschiedene Methoden. Der Meister erklärt und überträgt das Wissen und die Methoden, er arbeitet mit den Menschen zusammen, um ihnen zu helfen.

Viele Leute fragen sich, wozu braucht man einen Meister, wenn man den Dzogchen-Belehrungen folgt? Reicht es nicht, ein Buch zu lesen, das alles genau erklärt? Damit ist nicht gesagt, dass ein Buch keinen Wert hätte – aber es hängt sehr stark von der Person ab, die sich damit beschäftigt. Wir nehmen immer an, dass Menschen, die den Dzogchen-Lehren folgen, eine positive und eindeutige Ursache dafür haben, sonst würden sie nicht dahin kommen. Wenn jemand keine spezielle Ursache dafür hat, sich aber trotzdem durch eine bestimmte Wachheit auszeichnet, kann ein Buch für ihn sehr nützlich sein. Im Idealfall sollte man versuchen, einem Meister zu folgen, denn der Meister hat die lebendige Übertragung, die vom Ursprung der Lehre an weitergegeben wurde. Er kann diese Übertragung nutzen, um mit jedem auf der Ebene von Körper, Stimme und Geist zu arbeiten. So ist es für den einzelnen viel einfacher, den Zustand des Wissens zu finden, und nicht länger verwirrt zu sein.

In Tibet sagen wir, dieser Mensch ist nicht länger wie ein kleines Hündchen im Nebel, das nicht weiß, wohin es gehen soll. Der Meister weiß auch, wie man die Anwendung von Rigpa durch den Gebrauch von vielen unterschiedlichen Methoden, entsprechend den Bedürfnissen des einzelnen, entwickeln und festigen kann. All diese Dinge ergeben sich aus der Zusammenarbeit mit einem Meister oder einer Meisterin.

Die Dzogchen-Lehren sind lebendiges Wissen, das übertragen und angewendet wird. Sie sind kein Spezialistenwerkzeug für Spiritualität. Diese Belehrungen sind nützlich für alle, die mit beiden Beinen im Leben stehen wollen. Für diejenigen, die ihnen vertrauen, sind sie sogar noch nützlicher. Denen, die an nichts glauben und für die es auch nach dem Tod nichts gibt, könnten sie zu einem friedlicheren Leben verhelfen. Um wirklich Ruhe zu finden, musst du den Zustand des Wissens erfahren haben und wissen, wie du dich darin entspannst. Wenn du deinen wirklichen Zustand entdeckst hast und dich tatsächlich in ihm befindest, wirst du schließlich auch die Bedeutung von Entspannung entdecken. Bis dahin ist es noch eine Konstruktion des Verstandes, selbst wenn du meinst, du wärst entspannt.

Wir reden immer von “Entspannung”. Es ist einfach zu sagen, “Entspanne dich, entspanne dich, sei nicht so verkrampft!” Die meisten Leute haben keine Ahnung davon, wie sie sich ganz und gar entspannen können. Einige wissen gerade, dass sie ein bisschen den Körper entspannen, wenn sie sich aufs Bett legen. Andere wissen vielleicht, wie die Körperenergie durch Atemübungen entspannt werden kann. Doch das sind Wege der Entspannung auf der relativen Ebene, die mit der Zeit verbunden ist, und Zeit wiederum ist verbunden mit sekundären Bedingungen.

Jetzt bin ich entspannt. Jeder kommt zu mir und sagt: »Frohe Weihnachten!«. Man bringt mir Kuchen oder Geschenke. Warum sollte ich verkrampft sein? Die Umstände sind sehr günstig. Doch vielleicht fängt es morgen zu schneien an. Dann könnte ich möglicherweise nicht spazierengehen. Auch könnte jemand mich besuchen und mich in eine Diskussion verwickeln, anstatt Geschenke zu überreichen. Sicherlich ist es unter diesen Umständen schwieriger, sich zu entspannen. Die Bedingungen auf der relativen Ebene sind mit der Zeit verknüpft, alles verändert sich. Auch wenn es euch gelingt, Stimme und Geist zu entspannen, wird das immer nur provisorisch sein. Deshalb sind Belehrungen notwendig.

Buddha legte dar, dass Samsara durch Leiden gekennzeichnet ist. Leiden ist eine Tatsache, nicht etwas, wovon man nur spricht. Ob wir nun uns selbst oder andere beobachten, wir sehen, Leiden und Frustration sind immer vorhanden. Wer sich nicht entspannen kann, wird nur noch verkrampfter, wenn sich ein Problem einstellt. Wir wissen selbst, wenn wir in Eile sind, sind wir aufgedreht und dann geht nichts. Manche Leute stehen am Morgen zu spät auf, wenn sie ins Büro gehen müssen. Weil sie zu spät sind, sind sie hastig. Sie ziehen ihre Hosen verkehrt herum an, was ihnen normalerweise nicht passiert. Sie machen denselben Fehler beim Anziehen der Weste. Und wenn sie dann losgehen wollen, finden sie den Schlüssel nicht. Jeder macht solche Erfahrungen. Das zeigt, wir haben Probleme, wenn wir angespannt sind, und die einfachsten Dinge werden kompliziert. Rein verstandesmäßig könnten wir uns sagen: »Ich soll mich nicht verkrampfen, ich muss mich entspannen!« Doch das ist nicht so einfach. Ihr braucht ein bestimmtes praktikables Wissen dazu und das wiederum braucht eine Grundlage. Wir können sagen, dass die Dzogchen-Lehren uns den Weg zeigen, uns ganz und gar zu entspannen. Nun könnt ihr verstehen, weshalb Lernen, Anwenden und Praktizieren von Dzogchen für jeden unentbehrlich ist.

Chögyal Namkhai Norbu, Spiegel des Bewusstseins, Diederichs Verlag