Die Dzogchen Samayas

Es heißt, in der Dzogchen-Lehre gibt es weder Regeln noch Gelübde oder Verpflichtungen. Das kommt daher, weil diese Lehre jenseits einer solchen Ebene ist. Warum gibt es da keine Regeln? Weil Regeln eine Möglichkeit sind, Menschen zu konditionieren, wenn man sich darauf versteht.

Wir versuchen, im Dzogchen zuallererst Erkenntnis zu gewinnen, um volle Verantwortung für uns und das eigene Leben zu übernehmen. Aus gleichem Grund gibt es da auch keine Gelübde. Denn auch ein Gelübde abzulegen ist eine Art Konditionierung seiner selbst. Ein Versprechen oder eine Verpflichtung schränkt eine Person ein und ist in der Zeit begrenzt.

Wenn wir über die Samayas, die Gelübde oder Verpflichtungen, bei Dzogchen sprechen, können wir sie mit vier Prinzipien erklären. Wenn sie manchmal Versprechen oder Gelübde genannt werden, versteht man darunter meist die Verpflichtung, etwas zu tun. Doch die vier Prinzipien [im Dzogchen] implizieren nicht, dass etwas getan werden soll. Vielmehr haben sie etwas mit Erkenntnis zu tun, [und] Erkenntnis ist jenseits eines Versprechens. Die vier Prinzipien werden zwar Verpflichtung genannt, tatsächlich sind sie aber vier Betrachtungsweisen oder vier Aspekte der Erkenntnis.

Mepa (med pa), »da ist nichts«, ist der erste dieser Samayas. Wenn man nämlich sagt, “da ist etwas”, entsteht sofort ein Konzept. Und wo ein Konzept ist, ist auch der Ansatz für dualistisches Denken gegeben. Die Aussage “da ist nichts”, ist kein Konzept, sie ist eine Erkenntnis. Es gibt einen Text, der eine Art Zusammenfassung der Dzogchen-Lehren darstellt. Er trägt den Titel: “Der Ruf des Kuckucks”, Rigpä Khujug. [In Deutsch ist der Text in Diederichs Gelber Reihe 154 unter dem Titel “Spiegel des Bewußtseins”, Hugendubel 1999, erschienen.] Darin steht folgender Satz: “Ji shinwa she mi tog”. “Ji shinwa” bedeutet “so, wie es ist”. Auch dies sollte nicht als Konzept aufgefasst werden, als eine begriffliche Erklärung zu dem, was ist.

Wenn jemand sagt: “Da ist nichts”, und wenn das dann selbst zu einem Konzept wird, macht das keinen Sinn. Wenn du jemanden fragst: “Wie heißt du?”, und er antwortet: “Ich habe keinen Namen”, und du dann rufst: “He, ‘Kein-Name’, komm mal her!”, dann ist “Kein-Name” zum Namen geworden. Mepa, “da ist nichts”, darf man nicht zu einem Konzept machen. Es ist eher Erkenntnis.

Nun der zweite dieser Dzogchen Samayas : Chalpa (‚chal ba’). Es bedeutet: “Alles ist gegenwärtig” und auch man selbst ist in dieser Gegenwärtigkeit von allem voll präsent. Wenn wir über den “ursprünglichen Zustand” sprechen, über die ursprüngliche Bewußtheit jedes Menschen, so – ihr erinnert euch – sprechen wir von Essenz und Natur. Die Essenz ist leer. Da ist nichts. Die Natur jedoch ist Klarheit.

Um die Bedeutung zu verstehen, haltet ihr inne, um die eigenen Gedanken zu beobachten: Sie steigen auf, ihr schaut sie an. Ihr wisst nicht, woher sie kommen. Es gibt keinen Ursprungsort, ihr findet nichts. Das wird als Essenz angesehen: Es ist nichts da. Aber obwohl da nichts ist, tauchen unaufhörlich Gedanken auf. Ihr bemerkt den nächsten Gedanken. Es gibt immer noch nichts zu entdecken, woher er eigentlich kommt – schon taucht der nächste Gedanke auf. Im Grunde ist nichts da, aber es passiert ständig etwas, es geschieht dauernd, es ist eine fortlaufende Geschichte, die wir wahrnehmen. Das ist mit Klarheit gemeint, die wir Natur nennen.

So geht es uns auch, wenn wir über diese vier Verpflichtungen oder Betrachtungen sprechen. Zu allererst ist da gar nichts. Dennoch ist alles gegenwärtig, und wir selbst sind darin präsent. “Nichts ist da” bedeutet nicht, dass da nichts ist. Und es gibt nicht irgendetwas, das man als “Nichts“ lokalisieren könnte. Alles ist präsent, vorhanden. Das ist also die zweite Betrachtungsart, Chalpa. Sie bedeutet, wie immer die Umstände oder Ereignisse sind: Hier sind sie.

Der dritte Samaya wird Chigpu (gcig pu) genannt. Chigpu bedeutet “einzig”, und diese Singularität bezieht sich auf den Zustand des Individuums als solchen. Wenn wir über das Universum sprechen, können wir eine Menge komplizierter und phantastischer Erklärungen geben. Auch wenn es um die karmischen Visionen der sechs Daseinsbereiche geht, können wir eine Art geografische oder kosmologische Vorstellung entwickeln. Doch in Wahrheit finden wir all das tatsächlich nur in uns selbst, im Zustand jedes Einzelnen. Wenn wir über die Natur des Spiegels sprechen, ist es genau so: Der Spiegel reflektiert nur. Deshalb sagen wir, der Zustand des Individuums selbst ist das Zentrum des Universums. Das ist mit “einzig”, gemeint. Dies gilt für jeden Menschen. Es bedeutet aber nicht, dass ich das Zentrum des Universums bin und ihr etwa ein Teil von mir oder dass ihr der Ausdruck meiner selbst seid. Der Zustand jedes Individuums wird so erklärt. Diese Art Betrachtung, Chigpu, ist Erkenntnis.

Der letzte der Dzogchen Samayas wird Lhundrub (lhun grub) “von sich aus vollkommen” oder “von Natur her vollkommen” genannt. Es ist jenes Prinzip der Dzogchen-Lehre, das besagt, dass jeder Mensch ganz, von Anbeginn an vollkommen ist. Wenn ein Meister uns die Dzogchen Lehren überträgt, ist das, was er überträgt, diese gefühlte und gelebte Erkenntnis. Als Individuum versuchst du dies zu verstehen. Und wenn du den Weg der Praxis gehst, versuchst du, in diesem Zustand zu leben, selber den Zustand der Erkenntnis zu finden. Am Ende versuchst du, diesen Zustand, dieses Wissen, weiter zu entwickeln, bis du dich schließlich selbst verwirklichst. Zu versuchen, in dieser Erkenntnis zu leben, stetig diesen Zustand fortzusetzen, das ist es, was wir ein Versprechen oder eine Verpflichtung nennen. Andere Gelübde gibt es im Dzogchen nicht. Das bedeutet es also.

Wenn ihr dieses Thema studiert, etwa als Tibetologen, wenn ihr zum Beispiel das Nyingthig Yabshi (sNying thig ya bzhi) studiert, findet ihr dort Erklärungen zu Versprechen oder Gelübden. Die Gelehrten schreiben, dass es im Dzogchen manchmal Gelübde gäbe und manchmal nicht. Und dann sagen sie, sie könnten eine Reihe von Erklärungen über Gelübde geben. Aber es ist nicht Sache des Dzogchen, aus dem Kopf heraus intellektuelle Erklärungen zu geben, es ist eher einfach.

Es gibt die zwei Möglichkeiten, den Weg des Dzogchen zu sehen. Eine davon ist die Sichtweise des Anuyoga. Im Anuyoga wird das Wort Dzogchen dazu verwendet, den letztendlichen Zustand, den “Punkt der Ankunft” zu beschreiben. Im Anuyoga-System gibt es Visualisation und Transformation. Auf dem Weg zur Transformation muss man seine Fehler bekennen; dabei nimmt man Gelübde auf sich und übernimmt Verpflichtungen, so wird es erklärt. Das wird dann zusammengefasst in drei prinzipielle Gelübde, die Gelübde des Körpers, der Stimme und des Geistes genannt werden. Die Gelehrten machten aus diesen drei Gelübden fünfundzwanzig und arbeiteten sehr detaillierte Erklärungen dafür aus, was sie sind, wie sie beachtet werden müssen, und manches mehr. Das müsst ihr wissen, wenn von den zwei Aspekten des Dzogchen die Rede ist. Versprechen und Gelübde sind etwas, das selbstverständlich mit der Haltung und dem Verhalten verbunden ist.

Im Dzogchen gibt es keinerlei Versprechen oder Gebote. “Es gibt keine Gebote” impliziert, dass es stattdessen Bewusstheit gibt. Man hat gelernt, dass weder Gelübde noch Regeln vorhanden sind, und das ist unverzichtbar. Dieses besondere Wissen, das kontinuierliche Bewusstheit beinhaltet, ist auch eine Art Verpflichtung, die eingehalten werden muss. Denn wenn man das nicht auf diese Weise versteht und jemanden sagen hört, dass es [im Dzogchen] keine Versprechungen und Verpflichtungen gibt, sagt ihr euch sonst: “Gott sei Dank, das macht’s leicht. Ich muss ja gar nichts tun”. Es scheint eben nur so, als ob in den Lehren keine Verpflichtungen oder Versprechen vorhanden seien.

In Wahrheit ist es eine sehr viel schwierigere Position – weit entfernt davon leicht zu sein. Denn es bedeutet, dass man die Verantwortung nicht auf die Regel abwälzen kann. Ihr habt die Verantwortung hundertprozentig selbst übernommen. Einer Regel zu folgen, die euch vorgibt, wie ihr euch etwa auf einer bestimmten Straße verhalten sollt, ist recht einfach. Wenn euch jedoch gesagt wird: “Tu dein Bestes, ganz gleich mit welcher Situation du konfrontiert wirst und mit wem du es zu tun hast”, ist das etwas ganz Anderes. Denn du fragst dich dann: “Nun, wer weiß, was auf mich zu kommt. Wer weiß, wen ich treffen werde, was zu besprechen sein wird; was wird wohl passieren?”

Wenn du ein Kind zu jemandem schicken willst, wird es fragen: “Papa, was soll ich sagen?” Du antwortest: “Sag ihm bitte …, genau das. Das ist die Botschaft, die du ihm überbringen sollst. Dann komm gleich zurück.” Das Kind geht los, und ist ganz glücklich. Dort angekommen, sagt es: “Von meinem Papa soll ich … ausrichten.” Dann geht es zurück.

Es ist ja sehr viel einfacher, wenn präzise angegeben wird, was getan oder was nicht getan werden soll. Wenn ich meinen kleinen Sohn irgendwo hinschicke, ihn mit einer bestimmten Situation konfrontiere und ihn mit jemandem sprechen lasse, wird er, wenn er seinen Verstand gebraucht, seinen Vater fragen: “Papa, ich weiß ja gar nicht, was ich sagen soll, und wie soll ich es sagen?“ Wenn er mich das so fragt, was antworte ich ihm?

Das ist gerade erst der Anfang von dem, worüber man nachdenkt. Was du dir im Voraus zurechtlegst, muss ja keineswegs mit dem übereinstimmen, was dann auch tatsächlich gesagt und getan wird, wenn die Situation da ist. Das ist es, was wir mit “Verantwortung übernehmen” meinen.

Im Dzogchen trägt anstelle von “Sollen und Müssen” der Einzelne also voll die Verantwortung. Das gilt in jeder Hinsicht. Es betrifft die Praxis, die Eigenart jedes Einzelnen, es betrifft Verpflichtungen und Gelübde. Auch unsere Haltung und unser Verhalten wird von uns bestimmt. Das ist nichts Vages, es ist etwas sehr Präzises, das sich folgerichtig aus der realen Erkenntnis der jedem Menschen innewohnenden Natur ergibt.

Chögyal Namkhai Norbu, Talks in Conway, Juli 1982